Neu in Deutschland - Nr. 10

12 Sechs Kinder Von Amir Ahmed Übersetzung Nahed Al Essa Amir Ahmed mit seinen drei Kindern in Herne - fotografiert von seiner Frrau Mayada Al Ahmed. Es hat lange gedauert, aber nach zwei Jah- ren in Deutschland verstehe ich endlich, warum hier nur wenige Familien sechs Kin- der bekommen. Kinder bedeuten viel Ar- beit und Mühe. Ich selbst habe drei Kinder. Unser Sohn geht in die dritte Klasse, eine Tochter geht in die zweite Klasse und un- sere jüngste Tochter ist sechs Monate alt. Irgendetwas ist immer und manchmal fühle ich mich unter Druck. Ich bringe meine beiden ältesten Kinder zur Schule – weil es die Deutschen so machen. Als ich selbst ein Kind war, gab es nur ei- nen Jungen in unserer Klasse, der von sei- nen Eltern zur Schule gebracht wurde. Er wurde von uns allen dafür ausgelacht. Aber in Deutschland machen es fast alle Eltern so, dass sie ihre Kinder überallhin bringen, also machen wir es genauso. Wir brin- gen unsere Kinder zur Schule, zum Sport, zum Arzt, zu Freunden. Ist das richtig oder falsch? Ich weiß es nicht. Wir machen es nur, um nicht anders zu sein. Unsere syrischen Nachbarn machen es übrigens anders. Sie lassen ihre Kinder al- lein zur Grundschule gehen, wie sie es aus unserer Heimat kennen. Jetzt sind ihre Kin- der allerdings neidisch auf unsere Kinder. Und ich finde kaum mehr Zeit für mich. Meine Mutter hatte sechs Kinder. Mit ihr telefoniere ich regelmäßig. Sie lebt noch in Syrien. Wenn wir telefonieren, erzähle ich ihr auch von meinen kleinen Problemen im Alltag, die im Vergleich zur aktuellen Lage in Syrien natürlich winzig sind. Meine Mutter fragt mich: „Was ist los, was macht dich müde?“-„Ach, Mutter“, sage ich dann„wie hast du es geschafft, sechs Kinder großzuziehen? Du hast ja keine Vorstellung davon, wie genau wir unse- re Zeit planen müssen, um unsere Kinder zu versorgen!“ Sie antwortet: „Aber mein Sohn, das ist unvorstellbar! Du hast nur drei Kinder! Wie können sie dich so müde machen? Lass das nicht deine Nachbarn und Verwandten hören, sie sollen so etwas von dir nicht erfahren! Vergiss nicht, dass ich deine Geschwister und dich ohne Prob- leme großgezogen habe. Heute bereue ich es sogar, dass ich nicht noch mehr Kinder bekommen habe.“ „Wirklich? Aber das kann doch nicht leicht gewesen sein!“ „Doch. Das war es.“ „Dann bist du ein großartiger Mensch, so tapfer und belastbar. Und es ist dir alles so gut gelungen.“ Meine Mutter galt übrigens damals, als wir klein waren, als besonders moderne Frau: weil sie die Entscheidung getroffen hatte, dass sie nur sechs Kinder haben wollte. Das war lange das Hauptthema in unserer kleinen Stadt. Fairuz Von Nour Alzoubi Ein schwarzer Kaffee am Morgen, ohne Zucker, ohne Milch – mit Fairuz. So bin ich aufgewachsen. So wachsen wir in Syrien auf. Ihre Stimme durchzieht alle Gassen. Auch nach Jordanien begleitete sie mich und meine Familie. Als ich Fairuz‘ Stimme in Jordanien hörte, war mein Herz entsetzt. Meine Augen weinten. Meine große Angst damals war, dass wir lange in Jordanien bleiben würden. Ich wusste nicht, dass ich mein Land nicht mehr wiedersehen würde, jedenfalls bis heute. Und wenn wir eines Tages zurückgehen, was wird dann sein? Wie wird die Stimme von Fairuz nach dem Krieg in unseren Städten klingen? Ich spreche mit dem Wind: trag mich in meine Heimat! Ich war ein Kind, als ich meine Heimat ver- ließ. Sie sah mich nicht aufwachsen. Wenn ich in Deutschland die Lieder von Fai- ruz höre, weint mein Herz – um mein Land Syrien, um meine Stadt Daraa. Manchmal höre ich mein Herz nicht mehr schlagen und ich lache in die tödliche Wirklichkeit. Ich möchte mein Herz hören – und jeden Tag die Stimme von Fairuz. Fairuz ist eine libanesische Sängerin, die in Syrien so bekannt ist wie die Sonne. Nour Alzoubi, Foto: Wolfgang Wedel In Deutschland habe ich festgestellt, dass ich mich selbst nicht kenne. Auf der Straße würde ich an mir selbst vorbeilaufen, so fremd bin ich mir manchmal. Lamia Hassow

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