Neu in Deutschland - Nr. 10

18 Ich war noch ein Kind und es war eigentlich ein langweiliger Tag: Aber plötzlich wurde uns, wie aus dem Nichts, ein fantastischer Teller voller Süßigkeiten vor die Nase ge- stellt. Ich habe nicht genau verstanden, was unsere Nachbarn uns damit sagen wollten, wir waren noch zu klein. Aber wir spürten die große Freude, welche die Er- wachsenen erfüllte. Süßigkeiten verstehen Kinder in jedem Alter sehr gut. Einige Jahre später hatte meine Familien denselben Anlass zu feiern: Mein Bruder wurde beschnitten. Tagelang konnte ich die Vorbereitungen beobachten, obwohl meine Familie die Feier längst nicht so übertrie- ben hat, wie damals unsere Nachbarn oder viele andere Familien, die ich kenne. Aber ihre Freude war nicht zu übersehen. Mein Bruder war ungefähr sechs Jahre alt. Die Gesichter in meiner Familie und unserer Gäste strahlten. Aber diese Freude, diese Aufmerksam- keit, die mein Bruder erfuhr – die hätte ich auch gerne bekommen. Mein Bruder erhielt von allen Seiten bestär- kende Sätze, als wäre er ein König. „Du bist jetzt ein Mann!“ Aber wie kann ein Stück Fleisch, das in den Abfall geworfen wird, ei- nen sechsjährigen Jungen so plötzlich zum Mann machen? Darauf fand ich damals keine Antwort. Das Ritual einer verstümmelnden Be- schneidung von Mädchen gibt es in mei- ner Region nicht - Gott sei Dank! Und selbst dort, wo junge Mädchen grausam Zwei besondere Stücke Haut beschnitten werden, ist das kein Grund zum Feiern und zur Freude. Die Mädchen werden nicht wie Königinnen behandelt. Es gibt keine triumphierende Freude, die sie ihre schrecklichen Schmerzen vergessen lässt. Ihre Lust wird ermordet. Die Familie will die Mädchen davor bewahren, in ihrer Zukunft als Frau sexuelle Lust zu erleben, weil diese Lust sie in eine gesellschaftliche Unterwelt führt. Das Stück Haut, das eben- falls anschließend weggeworfen wird, wird als ein Stück Schande betrachtet. All das habe ich natürlich erst viel später er- fahren. Aber diese Freude, diese Aufmerk- samkeit, die mein Bruder erfuhr – die hätte ich auch gerne bekommen. Auch die Ge- schenke, die stolzen, bestärkenden Blicke. Auch bei uns Frauen richtet die Gesell- schaft eine besondere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Stück Haut – aber wir selbst werden dafür nicht wie Königinnen behandelt. Vielmehr lebt die Frau als Un- tertanin unter der strengen Herrschaft die- ser königlichen Haut. Bis wir uns mit einem Mann verheiraten, sind wir Frauen heraus- gefordert, diesem Stück unseres Körpers eine besondere Aufmerksamkeit zu schen- ken. Das ist unsere Pflicht. Ich spreche na- türlich vom Jungfernhäutchen. Das Jungfernhäutchen ist unsere Anleitung zur Keuschheit. Es ist das Portal, das uns den Weg zur Hochzeit eröffnet, zum Mut- tersein. Wenn wir das Häutchen verlieren, ist uns dieser Weg verbaut oder, sagen wir, es wird deutlicher mühsamer, diesen Weg zu gehen. Eine Frau, die vor der Hochzeit Von Lamia Hassow hassow-l@hotmail.com dieses kleine Stück Haut verliert, verliert ihren guten Ruf. Sie wird als „Schlampe“ oder „Hure“ bezeichnet. (Ein Mann, der vor seiner Hochzeit eine Nacht mit einer „Schlampe“ oder „Hure“ verbringt, kommt unbeschadet davon.) Eine Frau kann das Jungfernhäutchen durch einen Unfall ver- lieren (ohne dass ein Mann dabei eine Rolle spielt) oder durch eine Vergewaltigung (der Täter ist ein Mann) oder sie wird ohne die- ses Stück Haut geboren. Der Verlust jeden- falls kann den Tod der Frau bedeuten, „nur“ gesellschaftlich oder sogar körperlich. Ihre Majestät, mein Jungfernhäutchen! Unter der Herrschaft des Jungfernhäut- chens sieht das Leben einer Frau so aus: Verzichte aufs Fahrradfahren! Reite nicht auf Pferden! Vermeide es, Sport zu treiben, vor allem das Springen aus großen Höhen. Tu nichts, was mich beschädigen könnte. Sprich nicht mit Jungen oder Männern. Verabrede dich nicht mit Jungen oder Män- nern; sie haben immer giftige Ideen, die mich zerreißen könnten. Das Glück beginnt, wenn man einen Mann zum Heiraten gefunden hat. Dann kann die Frau tun, was sie vorher nicht durfte: sprin- gen, reiten, Fahrradfahren. Eine Frau, die keinen Mann findet, muss diese Verbote ein Leben lang einhalten und sie muss das, was sie glücklich machen könnte, auf unbestimmte Zeit verschieben. Lamia Hassow, Foto: Wolfgang Wedel

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