Neu in Deutschland - Nr. 11

16 Meine syrische Heimat in Bochum Rashed Alalej lebt seit zwei Jahren in Deutschland, lernt die deutsche Sprache und möchte hier studieren. Zu seinem Alltag gehört aber auch die arabische Welt – mitten in Bo- chum. Das blaue Fahrrad Als besonders cool galten in unserem Dorf damals Familien, die ihren Kindern ab und zu teures Spielzeug kauften. Meine Familie war nicht sehr cool, aber zum Glück gab es in unserer Region die Tradition, dass jedes Kind im Grundschulalter einmal ein besonderes Geschenk bekam. In der Regel bekam das Mädchen eine Puppe, die in ir- gendeiner Weise beweglich war. Der Junge bekam ein Fahrrad. Es ist also nicht schwer einzuschätzen, was ich bekam. Lolo, meine Puppe, konnte laufen. Das fand ich am Anfang toll, aber dann wurde es schnell langweilig. Mein Bruder konnte mit mir das kurze Wunder dieser laufenden Puppe ge- nießen. Es war für uns beide ungefährlich, mit ihr zu spielen. Umgekehrt konnte ich jedoch nicht mit seinem Fahrrad fahren. Für ein Mädchen ist es gefährlich, Fahrrad zu fahren. Das Jungfernhäutchen könnte beschädigt werden (was für ein Mädchen einer Todesstrafe gleichkommt). Als ich darauf bestand, mit dem Fahrrad zu fahren, wurde mir der entscheidende Grund für das Verbot erklärt: Mädchen ist es nicht erlaubt, Fahrrad zu fahren. Nur Jungen dürfen Fahrrad fahren. Diese Begründung erschien mir schon als kleines Mädchen unlogisch. Die Begeisterung meiner Brüder fürs Fahr- radfahren motivierte mich, das Verbot zu ignorieren – und ich beschloss, das Fahr- rad heimlich zu nehmen und mir selbst das Fahrradfahren beizubringen. In unserem Dorf schliefen fast alle Erwachsenen nach dem Mittagessen. Das war meine Chance! Mit dem blauen Fahrrad an meiner Seite lief ich zu einem Platz, der ein bisschen höher gelegen war und ließ mich mit dem Fahrrad den Hang herabrollen. Zuerst benutzte ich meine Füße, um das Gleichgewicht zu halten. Dann schaffte ich es, ohne mich mit den Füßen abzustützen. Als ich das Gleichgewicht beherrschte, versuchte ich, in die Pedalen zu treten. Natürlich lief mein Bruder zu unserer Mutter und beschwerte sich bei ihr über mich. Aber mein Wunsch, das Fahrradfahren zu lernen, war größer als meine Angst vor einer Strafe. Immer wieder nahm ich das Fahrrad, um in den Mittags- pausen zu üben. Eine besondere Heraus- forderung für mich lag darin, auf keinen Fall herunterzufallen und mir die Knie auf- zuschlagen. Das habe ich mir selbst fest versprochen! Denn mit aufgeschlagenen Knien hätte ich für alle sichtbar als schwa- ches Mädchen dagestanden, das nicht mit einem Fahrrad fahren kann. Und tatsäch- lich habe ich mein Versprechen gehalten: Ich habe gelernt, auf einem Fahrrad zu fah- ren – ohne einen einzigen schmerzhaften Sturz. Inzwischen bestand ein strenges Verbot für mich, das blaue Fahrrad zu nehmen. Da ich zu dieser Zeit aber bereits ein Fahrrad-Pro- fi war, nutzte ich die Gelegenheit, um die noch größeren Fahrräder meiner älteren Brüder und Cousins zu nehmen. Heute bin ich eine erwachsene Frau. In Bochum habe ich einen Kurs besucht, um auch auf den Straßen mit dem Fahrrad fah- ren zu können. In diesem Kurs achtete ich jedoch nicht sehr darauf, ob ich fiel oder nicht. Ich hätte tausend Mal stürzen kön- nen, es hätte mir nichts ausgemacht! Denn heute weiß ich, dass ich stark bin. Egal, was andere denken. . Von Lamia Hassow hassow-l@hotmail.com Lamia Hassow Zuerst fühlte ich mich sehr fremd, als ich nach Deutschland kam, fremd und ein- sam. Die ersten Monate verbrachte ich in einem Dorf in der Nähe von Gießen. Dann zog ich nach Bochum und war überrascht zu sehen, wie vertraut mir viele Dinge hier waren! Bochum ist an manchen Stellen wie eine syrische Stadt: Es gibt viele syri- sche Restaurants, Friseurläden und ande- re Geschäfte, in denen Arabisch gespro- chen wird. Anders als in meiner Heimatstadt Homs höre ich hier allerdings viel mehr unter- schiedliche Dialekte. Ich habe also viel Neues über meine arabische Mutterspra- che gelernt! Und ich habe in den syrischen Restaurants hier Spezialitäten aus meinem Heimatland kennengelernt, die ich vorher nicht kannte! Manchmal verbringe ich zu- viel Zeit auf Facebook, am liebsten in einer Gruppe, in der viele Menschen sind, denen es genauso geht wie mir: Sie sind neu. Lamia Hassow engagiert sich auch in Deutschland für die Gleichberechtigung von Frauen & Männern. Fortsetzung nächste Seite

RkJQdWJsaXNoZXIy NDcxMjk=