Neu in Deutschland - Nr. 11

8 Wie könnte jemand unsere Wunden fühlen? zu reden. Es gibt zwei Dinge, um die ich die Men- schen in Europa bitten möchte. Erstens: Vergleicht bitte unser Leben nicht mit Eu- rem Leben. Welches ist besser, wer ist stärker – wer kann das sagen? Die meisten Menschen in Europa haben nie gelebt, wie wir gelebt haben. Sie tragen nicht das Leid, das wir erlitten haben. Und zweitens: Sagt nicht, dass Ihr unsere Wunden fühlt. Nicht einmal in unserer eigenen Sprache könnten wir unsere Wunden beschreiben. Wer das Foto neben diesem Text anschaut, sieht darauf: Steine, Trümmer, Ruinen. Wer das Foto mit dem Herzen betrachtet, ahnt, dass hier einmal Häuser standen, in denen Menschen gelebt haben. Was jedoch kei- ner sehen und auch nur ahnen kann: Genau hier habe ich meine Kindheit verbracht. Hier hatten wir unser Leben. Und dieser wun- derbare Ort wurde zu jenem Ort, an dem meine Freunde geschlachtet wurden. Verstehen Sie, was ich sage? Diesen Ort habe ich gelebt und geliebt. Ich verbrachte dort die schönsten Tage meines Lebens. Doch man brachte mich dazu, diesen Ort zu hassen. Verstehen Sie, was ich sage? Heute sind viele Menschen aus meiner Hei- mat in Europa. Dortmund ist meine neue Stadt geworden. Mit einem freundlichen Lächeln wurde mir das Wort „Flüchtling“ auf die Stirn geklebt. Viele Menschen ha- ben uns geholfen und dafür bin ich dankbar. Doch das Wort „Flüchtling“ klingt in meinen Ohren wie eine Beleidigung. Verstehen Sie, was ich sage? Das gleiche Gefühl habe ich, wenn ich drei Mal in der Woche durch die Türen des Job- centers trete. Die Hilfe, die ich dort erhalte, schlägt mir wie eine Beleidigung entgegen. In meiner Heimat im Irak führten wir ein einfaches Leben. Den Wohlstand der Men- schen in Europa kannten und vermiss- ten wir nicht. Unser Wohlstand war ein an- derer. Wir kamen nicht nach Deutschland, um zu klagen oder um über unsere Wunden Von Thamer Khale Wie kann er das tragen? Als ich in der Türkei war, trug ich manch- mal eine Traurigkeit in mir, dass ich es morgens kaum schaffte, zur Arbeit zu gehen. Eines Morgens sah ich auf dem Weg zur Arbeit einen Jungen, der mir einige Monate zuvor schon einmal begegnet war. Dem Jungen fehlte ein Bein. Das Bein war ihm amputiert worden, nachdem er in seiner Heimatstadt Aleppo von einer Bombe getroffen worden war. Anschließend war er mit seiner Mutter in die Türkei geflohen. Als ich die beiden das erste Mal gesehen hatte, lebten sie in einer Garage. Mit dem Jungen hatte ich kurz gesprochen, ich glaube, er war traumatisiert. Das war schrecklich anzusehen. Erst sagte er gar nichts. Dann lachte er und weinte. Als ich ihn Monate später wiedersah, saß er auf dem Gehweg und verkaufte Taschentücher. Ich wurde sehr traurig, als ich ihn sah. „Er hat sein Bein noch einmal verloren, und so viel mehr als das“, dachte ich. Jetzt sitzt er auf der Straße, damit seine Familie etwas zu essen hat. Ich setzte mich zu ihm auf den Bürgersteig und küsste seine Wangen. „Erinnerst Du Dich an mich?“, fragte ich ihn mit einem Lächeln. Er lächelte auch, sah mich an und antwortete nicht. Dieses Lächeln, das wie ein Engel über mich flog, und seine unschuldig fragenden Augen sehe ich bis heute vor mir. Ich kaufte eine Packung Taschentücher von ihm, gab ihm das Geld und sagte, die Taschentücher würde ich später abholen. Das akzeptiere er nicht, sagte er, weil er das Geldstück schon entgegen genom- Von Laila Ammi Thamer Khale, Foto: Wolfgang Wedel Shingal im Irak: Der zerstörte Heimatort von Thamer Khale. Fortsetzung nächste Seite

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