neu in Deutschland | Nr. 14

3 Lamia Hassow ist eine genaue Beobachterin des Alltags - und clever genug, um selbst etwas aus diesen Beobachtungen zu lernen. Von Lamia Hassow Schon wieder - oder immer noch? Die ärmsten Menschen des Landes betteln auf der Straße um Geld. Das habe ich in Syrien erlebt, und das erlebe ich in Deutschland. Aber es gibt Unterschiede. In Syrien trifft man vor allem an Bushaltestellen auf bettelnde Menschen. Meist sind es Kinder, die nicht sehr gepflegt und wenig behütet aussehen. Sie tauchen in der Regel in einer Gruppe auf und haben eine Strategie, mit der sie seit vielen Jahren erfolgreich sind: Ein Kind nähert sich einer ausgewählten Person – am beliebtesten sind Frauen, die allein oder mit kleinen Kindern unterwegs sind – und es bittet sie mit flehender Stimme um Geld. Wenn die anderen Kinder sehen, dass das Kind erfolgreich war, kommen alle angerannt, zerren an den Ärmeln der Frau und bitten mit lauten, flehenden Stimmen um Geld. Viele Frauen geben den Kindern Geld, um sich so schnell wie möglich aus dieser unangenehmen Situation zu befreien. Es gibt auch Bettelnde, die still irgendwo sitzen – mit aufgehaltener Hand. Häufig haben sie ein Baby auf dem Arm oder sie zeigen ihre körperliche Behinderung. Diese stillen, sitzenden Bettler habe ich auch in Deutschland gesehen. Hier wie dort sitzen sie gerne an Bus- und Bahnhaltestellen. Wobei es in Deutschland deutlich weniger sind als in Syrien. Aber in Deutschland haben sie viel mehr verschiedene Methoden. A ls ich ganz neu in Bochum war, sprach mich einmal an einer Bahnhaltestelle einjungerMannan.ErtrugschickeKleidung, sah gepflegt aus, hatte eine stylishe Frisur und eine Brille – und was mich am meisten freute: Er sprach Englisch mit mir! Auf Deutsch hätte ich ihm damals gar nicht antworten können. Ich war also froh, dass er mich ansprach! Wir wechselten ein paar Sätze und dann erklärte er mir, dass ihm dummerweise noch genau ein Euro fehle, um ein Bahnticket zu kaufen. Sein Geld sei irgendwo verloren gegangen. Ich verstand sofort, dass er ein Bettler war. Aber ich war sehr erstaunt, denn seine Mimik und seine Kleidung waren nicht gut für einen Bettler! Ich dachte: „Er sollte Schauspielkurse besuchen! Er sollte lernen, wie man bettelt!“ Das Geld gab ich ihm trotzdem. Wir hatten uns ja so freundlich unterhalten und ich war dankbar, dass jemand mit mir Englisch gesprochen hat. Diese Methode kannte ich aus Syrien noch nicht und ich bezweifelte, dass sie sehr erfolgreich war. Später habe ich diesen Mann noch oft an der gleichen Bahnhaltestelle gesehen. Immer fragt er nach einem Euro für ein Bahnticket, und immer spricht er Frauen an, die allein unterwegs sind. Das ist offenbar ein internationales Phänomen, dass Bettler am liebsten Frauen ansprechen, die allein oder mit kleinen Kindern unterwegs sind. Neulich habe ich ihn wieder getroffen. Mit einem genervten Ton fragte ich: „Schon wieder?“ Eigentlich mag ich Menschen, die nicht aufgeben. Aber irgendetwas an ihm hat mich gestört. Er antwortete: „Immer noch.“ Auf demNachhausewegwurdemir klar, warum ich mich über diesen Mann geärgert habe: Weil ich an ihm sehe, wie schwierig es ist, aus einer schlechten Lage herauszukommen, sich nach vorne zu bewegen. Wenn ich ihn sehe, spüre ich das Blei an meinen eigenen Füßen. Tatsächlich habe ichmich sehr viele Schritte nach vorne bewegt, seit ich diesem Mann vor vier Jahren zum ersten Mal an der Bushaltestelle begegnet bin. Doch vor mir liegt schon wieder die nächste Deutschprüfung, schon wieder eine Hoffnung auf eine berufliche Zukunft. Und wenn mich nächstes Jahr jemand fragt, ob ich zum Deutschkurs gehe und Bewerbungen schreibe, dann hoffe ich, dass ich nicht antworten muss: Immer noch. F rauen und Mä n- ner sollten mit den gleichen Chancen zusammen leben. www.nid-zeitung.de zeitung über flucht, liebe und das leben neu in deutschland Lamia Hassow hassow-l@hotmail.com

RkJQdWJsaXNoZXIy NDcxMjk=