Neu in Deutschland - Nr. 10

16 Als ich ein Teenager war, also etwa im Al- tern von 12 bis 17 Jahren, waren Liebe und Sexualität für mich ein Tabu. Das heißt, die Gesellschaft und meine Familie machten beides zu einem Tabu für mich. Ich habe lange nichts darüber erfahren, bis es das Internet gab. Über das Internet erfuhr ich viel über die Liebe, über Emotionen und gesunde sexuelle Verhaltensweisen. In den allermeisten Fällen finde ich Tabus nicht gut. Für mein eigenes Leben kann ich sagen, dass es mir nicht gut getan hat, dass über manche Dinge einfach über- haupt nicht gesprochen wurde und jede Frage ins Leere lief. In der Schule wurden wir nicht aufgeklärt und lernten nichts über die Geschlechtsorgane. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass wir in Biologie eine Lehrerin hatten und unsere Klasse nur aus Jungen bestand. In den Büchern kam das Thema vor, aber es wurde nur über die Anatomie gesprochen. Ganz sicher gibt es Tabus, mit denen Menschen und ihre Gefühle ge- schützt werden. Aber es gibt auch Tabus, die in meinen Augen Menschenrechtsver- letzungen sind und wodurch Minderheiten diskriminiert werden. Zum Beispiel ist in meiner Heimat jede Kritik an der Religion verboten. Bis ich 22 Jahre alt war – diese Zeit verbrachte ich in Syrien und in Libyen – habe ich es zudem kein einziges Mal erlebt, dass einer antisemitischen Äußerung wi- dersprochen wurde. Ich glaube nicht, dass alle Menschen wirklich antisemitisch den- ken, aber man kritisiert diese Äußerungen nicht. Das würde ein bestehendes Tabu verletzen, mit schwerwiegenden Folgen. In Deutschland ist es genau andersherum. In den arabischen Ländern gibt es drei Ta- In Deutschland ist es genau andersherum bus: Religion, Sexualität und Politik. Über diese Bereiche soll nicht gesprochen wer- den, jedenfalls nicht kritisch oder aufkläre- risch. Die Herrschenden achten besonders auf die Einhaltung der Tabus Religion und Politik, damit keine Gegenmächte entste- hen. Von staatlicher Seite werden schwere Verletzungen eines Tabus mit Verhaftungen bestraft. Aber auch in der Gesellschaft wird darauf geachtet, dass bestimmte Traditio- nen und Tabus eingehalten werden. Dazu gehören die Sexualität, das Trinken von Alkohol, Glücksspiele. Die meisten Men- schen haben eine große Hemmung, diese Themen anzusprechen. „Alkoholtrinker“ ist ein geläufiges, übles Schimpfwort, ebenso „Lottospieler“. Über die Sexualität darf man nicht spre- chen, man lernt nichts darüber in der Schule und man soll keine Fragen stellen. Besonders stark ist dieses Tabu zwischen Männern und Frauen, aber auch in den Familien. Dabei spielt nicht nur die Scham eine Rolle. Es gehört sich auch nicht, über diese Dinge zu sprechen. Ausgelebte Se- xualität außerhalb der Ehe ist haram (ver- boten) und deshalb tabu. Wobei man als Mann keine schweren Folgen fürchten muss. Man kann die Frau, mit der man Sex hatte, heiraten, dann ist alles gut. Für die Frau ist es jedoch schlimm, wenn bekannt wird, dass sie außerhalb der Ehe Sex hat- te. In vielen Familien wird das als Schande betrachtet. Von Khaled Al Rifai Unverputzt & Gold Die Skulpturen-Ausstellung hat mir am besten gefallen. Aber ich frage mich: Wa- rum finden die Deutschen eigentlich diese rauen Wände so schön? (Issam) Ja, das frage ich mich auch. Mir gefällt das nicht so gut. Ich mag es lieber, wenn die Wände ordentlich aussehen, also glatt. (Dima) Wahrscheinlich hat das mit Sehgewohn- heiten zu tun. Viele Deutsche finden es an- genehm und sogar schick, wenn die Wän- de nicht verputzt sind. (Dorte) Vielleicht gewöhnen wir uns auch noch an dieses Sehen... (Lamia) Es ist auch eine Sehgewohnheit, dass vie- le Menschen in der arabischen Welt Gold mögen – oder? (Dorte) Ja, bei uns soll alles wie Gold schimmern! (Dima) Ich mag kein Gold. Mir ist schwarz lieber. (Juan) Warum soll Gold überhaupt einen beson- deren Wert haben? (Issam) Weil es selten ist. Und es hat einen beson- deren Glanz, anders als Gelb. (Mahmoud) Gold ist aber gar nicht selten! Das denken die Menschen nur. Ich mag am liebsten die Farben, die nah an der Natur sind, die Far- ben der Steine zum Beispiel. (Issam) (Mahmoudi) Ein Besuch im Lehmbruck-Museum in Duisburg warf im nid-Team die Fragen auf, was an unverputzten Wänden schön ist und welchen Wert eigentlich Gold hat.. Khaled Al Rifai, Foto: Wolfgang Wedel Skulptur „Mutter & Kind“ von Wolfgang Lehmbruck Foto: Issam Al-Najm Fortsetzung auf nächster Seite

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